SDG 17
Umsetzungsmittel stärken, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung zu erreichen
Die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) der Vereinten Nationen erfordert den Aufbau übergreifender Partnerschaften auf internationaler Ebene und eine Zusammenarbeit zwischen den Ländern – insbesondere um die Bemühungen der Entwicklungsländer zu unterstützen. Die Tabakindustrie mischt sich jedoch in die verschiedenen Phasen dieses Prozesses ein. Vor allem versucht sie, den Verlauf der Verhandlungen in internationalen Gremien, wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen UN-Gremien, zu beeinflussen.
«Ihr Ziel ist es, sich Informationen über die laufenden Debatten zu beschaffen, um deren Ausgang zu beeinflussen», sagt der Epidemiologe und Spezialist für öffentliche Gesundheit Marcel Tanner. Um dies zu erreichen, nutzen die Tabakkonzerne ihre Kontakte in den internationalen Gremien. Zuweilen versuchen sie auch, die verschiedenen Ausschüsse zu untermauern, die die Entscheidungsträger beraten, erklärt Tanner weiter.
So haben die Tabakkonzerne beispielsweise bei der in Genf ansässigen Internationalen Organisation für Normung, welche die ISO-Normen festlegt, interveniert, um den Inhalt des Standards für Luftqualität zu beeinflussen. Als Folge dieser Einmischung besagt der Standard nun, dass die gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Passivrauchens durch ein Belüftungssystem kontrolliert werden können.[1]
Gegenüber der Welthandelsorganisation (WTO) argumentieren die Tabakriesen, dass bestimmte Kontrollmassnahmen, wie z. B. die Verpflichtung, Zigaretten in neutralen Verpackungen zu verkaufen, gegen die Handels- und Gewerbefreiheit verstossen. Dies führte beispielsweise dazu, dass sich die Umsetzung eines entsprechenden Gesetzes, das 2011 von Australien verabschiedet wurde, verzögerte.[2]
Die Tabakkonzerne instrumentalisieren mitunter die Delegationen der Länder, die an diesen Debatten teilnehmen. In den Jahren 2012 und 2014 gelang es ihnen, in der sambischen und italienischen Delegation der Vertragsstaatenkonferenz (COP) des Rahmenübereinkommens der WHO zur Eindämmung des Tabakgebrauchs Personen zu platzieren, die Pro-Tabak-Organisationen nahestehen.[3] Artikel 5.3 des Rahmenübereinkommens besagt jedoch, dass die Vertragsstaaten dafür sorgen müssen, ihre gesundheitspolitischen Massnahmen zur Tabakkontrolle «vor den kommerziellen und sonstigen berechtigten Interessen der Tabakindustrie» geschützt werden.[4]
Das Gewicht der Tabakkonzerne zeigt sich nicht nur auf der internationalen Bühne. «Sie versuchen regelmässig, auf nationaler Ebene Einfluss zu nehmen», betont Marcel Tanner. «Zu diesem Zweck zielen die Tabak-Multis vor allem auf fragile Staaten ab, insbesondere auf Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen, die für die Botschaften der Tabakkonzerne empfänglicher sind.» Auch Länder mit robusten Institutionen sind nicht immun. «In der Schweiz haben Lobbyisten – auch die der Tabakindustrie – Zugang zum Bundesparlament und können dort ungehindert ihren Einfluss auf die Politikerinnen und Politiker ausüben», ruft Tanner in Erinnerung.[5] Die Schweiz belegt im Global Tobacco Industry Interference Index des Global Centre for Good Governance in Tobacco Control (GGTC) den 79. und damit vorletzten Platz, lediglich vor der Dominikanischen Republik.[6]
Die Einflussnahme nimmt verschiedene Formen an, z. B. das Verfassen von fertigen Gesetzestexten, die Behinderung der Ausarbeitung wirksamer Gesetze, die Finanzierung von Wahlkampagnen für Abgeordnete, die Finanzierung von Kampagnen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und im Extremfall die Einreichung einer Klage gegen eine auf nationaler Ebene eingeführte Anti-Tabak-Massnahme.[7]
Die Tabakkonzerne schrecken auch nicht davor zurück, die unterschiedlichen Positionen innerhalb einer Regierung auszunutzen. «Sie konzentrieren ihre Bemühungen auf das Wirtschaftsministerium, das in der Regel mächtiger ist als das Gesundheitsministerium, und schaffen so einen Konflikt zwischen den beiden Instanzen», erläutert Marcel Tanner. Diese Taktik wurde beispielsweise in Tansania angewandt, wo das Wirtschaftsministerium Bestandteil des Präsidialamts ist.
Eine weitere Strategie der Tabakindustrie besteht darin, Organisationen zu gründen und zu finanzieren, die auf den ersten Blick unabhängig zu sein scheinen. Viele dieser Organisationen konzentrieren sich auf das internationale Genf oder betreiben in Genf ein Büro, um einen direkten Zugang zu den UNO-Organisationen zu haben. «Es ist auch zu beobachten, dass ehemalige Funktionäre oder Mitarbeitende der WHO diesen Organisationen beitreten. Der sogenannte Drehtür-Effekt verschafft ihnen einen ungebührlichen Einfluss auf die internationalen Verhandlungen im Gesundheitsbereich», so Marcel Tanner weiter.
Zu diesen Organisationen gehören beispielsweise die Stiftung für eine Welt ohne Rauchen, die von Philip Morris International finanziert wird, oder die Stiftung zur Abschaffung der Kinderarbeit im Tabakanbau (Eliminating Child Labour in Tobacco-growing, ECLT), die von den grossen Tabak-Multis getragen wird.[8] Auf nationaler Ebene unterstützen die Tabakriesen häufig die Verbände der Tabakbäuerinnen und -bauern oder der Gastwirte. In der Schweiz präsidiert der SVP-Nationalrat Gregor Rutz Swiss Tobacco, die Organisation, welche die Tabakwarenhändlerinnen und -händler vertritt.
Auf subtilere Weise beeinflusst die Tabakindustrie auch die öffentliche Meinung, indem sie PR-Firmen engagiert, die Journalisten und NGOs ihre Botschaften eintrichtern. In Mittelamerika hat sie beispielsweise eine Kampagne gegen höhere Steuern auf Zigaretten geführt und argumentiert, dass die Steuererhöhung viele Arbeitsplätze gefährden würde.[9] In Russland klagte sie gegen das Verbot für Zigarettenhersteller, NGOs zu sponsern. Sie verwies darauf, dass dies die Wohltätigkeitsarbeit der NGOs in Mitleidenschaft ziehen würde.[10]
Noch perfider ist, dass die Tabakindustrie vielfach ihre eigene Forschung finanziert. Marcel Tanner erklärt: «Sie stellt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Geld zur Verfügung oder erteilt ihnen sogar Forschungsaufträge. Das Risiko besteht, dass diese die Ergebnisse, die den Interessen der Tabakindustrie zuwiderlaufen, aus ihrer Forschung ausschliessen.» Die Universitäten verlangen von ihren Forschenden, dass sie ihre Interessenbindungen offenlegen, aber die Überprüfung lässt manchmal zu wünschen übrig.
Ein berühmtes Beispiel ist das Passivrauchen. Nachdem Philip Morris International in einem Geheimlabor die Toxizität des Passivrauchens für die ihm ausgesetzten Personen nachgewiesen hatte, initiierte der Konzern zusammen mit anderen Zigarettenherstellern ein internationales Forschungsprogramm, um die Gefahren des Passivrauchens zu widerlegen.[11]
«Um den Einfluss der Tabakindustrie auf die Erreichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung zu verhindern, gibt es nur einen Weg: mehr Transparenz, sowohl beim Informationsfluss als auch bei der Finanzierung», sagt Marcel Tanner und schliesst: «Das Problem ist nicht, dass es keine Regeln gibt, sondern dass sie nicht durchgesetzt werden».
[1] Bialous SA, Yach D, Whose standard is it, anyway? How the tobacco industry determines the International Organization for Standardization (ISO) standards for tobacco and tobacco products, Tobacco Control 2001;10:96-104.
[2] https://portal-uat.who.int/fctcapps/fctcapps/fctc/kh/TIInterference/tobacco-industry-interference
[4] https://fctc.who.int/fr/home
[5] Boschetti, Pietro; Mach, Philippe (2018): Attention, ce parlement peut nuire à votre santé. RTS, 9/6/2018. Available online at https://pages.rts.ch/emissions/temps-present/9732471-attention-ce-parlement-peut-nuire-a-votre-sante.html
[6] https://www.at-schweiz.ch/de/advocacy/tabakindustrie/global-tobacco-index/
[8] https://tobaccotactics.org/wiki/eclt/
[10] Ibidem